Wie wurde Taiwan, welches sich einst mit Wasserkraft energetisch selbstversorgen konnte, abhängig von importierten Energieträgern? Diese Frage stellte sich Dr. Tsai-ying Lu in ihrer Dissertation. Im Interview mit Rti erklärt sie die historische Entwicklung der taiwanischen Energiepolitik.
Der kürzlich vollzogene Atomausstieg Taiwans hat ein Schlaglicht auf die taiwanische Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen geworfen. Taiwan gewinnt nur 3% seiner Energie aus erneuerbaren Quellen, 97% der Energie wird aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Diese wiederum werden fast komplett importiert – ebenfalls fast zu 97%.
Importiertes Öl macht über 40% der taiwanischen Energieversorgung aus, aber der Anteil von Flüssiggas (LNG) ist in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen, so dass importiertes LNG 2023 knapp über 20 % der gesamten Energieversorgung ausmachte.
Doch wie wurde Taiwan, welches sich eins mit Wasserkraft energetisch selbst versorgen konnte, abhängig von importierten Energieträgern? Diese Frage stellte sich Dr. Tsai-ying Lu in ihrer Dissertation, die sie letztes Jahr an der Maastricht University in den Niederlanden abschloss.
Mittlerweile arbeitet Dr. Tsai-ying Lu als Research Fellow an der staatlich finanzierten Denkfabrik DSET. Im Interview mit Rti erklärt sie die historische Entwicklung der taiwanischen Energiepolitik, und welche Rolle auch diplomatische Überlegungen dabei spielen.
Dr. Lus historische Recherche beginnt dabei nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem sich die Kuomintang nach ihrer Niederlage im Chinesischen Bürgerkrieg 1949 auf Taiwan zurückgezogen hatte. Eine richtige Energiepolitik gab es damals noch nicht, die Stromversorgung basierte damals vor allem auf Wasserkraft. Noch 1953 machte diese 93,7% der installierten Kapazität aus.
Damals war der industrielle Sektor auf die beiden Hafenstädte Keelung im Norden Taiwans und Kaohsiung im Süden konzentriert. Die Wasserkraftwerke lagen jedoch vornehmlich in den Bergen - schließlich müssen sie dort gebaut werden, wo das Wasser ist. Das führte Taipower zu der Überlegung, Kohlekraftwerke zu bauen.
Kohle hat den entscheidenden Vorteil, dass sie transportiert werden kann, und in Fabriknähe zur Energiegewinnung genutzt zu werden – mit weit geringeren Leitungsverlusten. Die Regierung wollte daher Kohle nutzen – lokal abgebaute Kohle.
Dr. Lu sagt:
“Taiwan war nicht immer von importierten Energiequellen abhängig. Stattdessen, als sie in den 50er Jahren über den Bau von Wärmekraftwerken nachdachten, haben sie lokal abgebaute Kohle benutzt. Die Kohlereserven waren vor allem im Norden Taiwans, vor allem in Keelung. Die größte Herausforderung in den 1950er Jahren war, dass sie in Taiwan abgebaute Kohle zugänglicher machen wollten. Sie bauten daher Eisenbahnen, damit sie in Kaohsiung im Süden Taiwans Zugriff auf die Kohle hatten.”
1963 entfielen dann nur noch rund 50% der installierten Kapazität auf Wasserkraft, die andere Hälfte bestand aus Wärmekraftwerken, die Kohle verbrannten. Was die tatsächliche Energiegewinnung anging, überholte Kohleverbrennung Wasserkraft im Jahr 1962.
Die Kohle hatte aber auch Nachteile. An Klimawirkung dachte man damals noch nicht, aber es war vor allem schwierig, eine konsistente Qualität der Kohle zu garantieren. Als staatliches Unternehmen war Taipower verpflichtet, auch Kohle von schlechter Qualität, also vor allem mit einem hohen Feuchtigkeitsanteil, abzunehmen. Eine billigere und verlässlichere Alternative war importiertes Öl.
Der Umstieg war nicht besonders schwierig, denn die Kraftwerke waren in der Lage, Öl genauso wie Kohle zu verbrennen. Außerdem war der Kaohsiunger Hafen ausgebaut und vertieft worden, wodurch Öltanker leichter anlegen konnten.
“1968 hatte Taiwan seine erste Energiepolitik. Damals gab es einen weitverbreiteten Optimismus gegenüber importiertem Öl und außerdem eine boomende Öl-Industrie. Man hoffte also, mehr Öl in anderen Ländern zu fördern. Und man schaute auch auf Kernkraft, welche damals gerade wirtschaftlich wurde. Um 1968 herum fängt das Taiwanische Energiesystem also an tiefer in einer Kohlenstoffwirtschaft verankert zu sein, wie ich es in meiner Dissertation genannt habe”
Dann kam 1973 aber die erste Ölkrise, welche weltweit Regierungen vor Herausforderungen stellte. In Taiwan kam ein weiterer Faktor erschwerend dazu.
Zwei Jahre zuvor im Jahr 1971 hatten die “Vertreter Chiang-Kai Sheks”, also die Kuomintang-Regierung auf Taiwan, ihren Sitz in den Vereinten Nationen verloren. Diplomatisch zusehends isoliert stellte für Taiwan daher die Ölkrise 1973 eine besondere Herausforderung dar – wie sollte Taiwan die notwendigen Importdeals machen? Hier kommt der staatliche Energieversorger Taipower ins Spiel.
Taipower initiierte Ende 1973 eine technische Kooperation mit Saudi Arabien und sicherte sich im Gegenzug Ölexporte. Gleichzeitig erhöhte es auch seine Lagerkapazität für Kohle.
Während Taipower in der Vergangenheit zur Abnahme minderwertiger lokal abgebauter Kohle verpflichtet war, wurde der Energieversorger 1969 ermächtigt, seine eigenen Brennstoffe auch aus dem Ausland zu beschaffen. Dazu sollte auch Uranium für das erste taiwanische Kernkraftwerk gehören, dessen Bau 1970 beschlossen wurde und das acht Jahre später ans Netz ging.
1979, zeitgleich mit der zweiten Ölkrise, erlitt Taiwan einen weiteren schweren diplomatischen Rückschlag, der ebenfalls Auswirkungen auf die taiwanische Energiepolitik haben würde: Die USA erkannten die Volksrepublik China als alleinige Regierung Chinas an.
In ihrer Dissertation zitiert Dr. Lu Hui Huang, einen Manager des staatlichen Energieunternehmens Taipower:
“Als die Vereinigten Staaten die diplomatischen Beziehungen mit der Republik China 1979 abgebrochen haben, hat die Regierung nicht nur dazu ermutigt, sondern auch die Anweisung gegen, dass Kohle von den Vereinigten Staaten gekauft werden soll, um die Sympathien und die Unterstützung des Amerikanischen Volkes zu erlangen, und um diese [Einkäufe] als Verhandlungsmasse zu nutzen. Damals hatte Taipower der [taiwanischen] Regierung bereits erklärt, dass Kohle aus den USA pro Tonne 10 Dollar mehr als australische Kohle kostet. Taipower befolgte die Anweisungen, aber wurde unerwarteterweise zum Sündenbock”
Auch an anderer Stelle haben die USA eine Rolle im taiwanischen Energiesystem gespielt. Dr. Lu sagt:
“Ich glaube ja, die Rolle der USA im Ausbauprozess des taiwanischen Energiesystems, oder der Kohlenstoffabhängigkeit, ist sehr offensichtlich. In den 50er Jahren haben wir noch USAID erhalten. Warum dachte die taiwanische Regierung, dass Wärmekraftwerke machbar sind? Einer der wichtigsten Gründe war das die US-Regierung und Unternehmen wie GE oder Western House alle diese Generatoren und Wärmekraftwerke bereitgestellt haben. Dazu kam das Training von Angestellten, alle diese Sachen wurden durch USAID ermöglicht.”
Und auch bei der Entwicklung der taiwanischen Kernkraftkapazitäten spielten die USA eine unterstützende Rolle. Dr. Lu erzählt von einer Zukunftsprognose aus dem Jahr 1968:
“Sie ist handgeschrieben. Es gibt eine sehr optimistische Linie die suggeriert, dass wir mehr Atomstrom und weniger importiertes Öl in der Zukunft haben werden, also macht euch keine Sorgen darum.”
Es sollte allerdings anders kommen. Zwar sank der Anteil von Öl am Energieverbrauch von 74,79% im Jahr 1977 auf 36,01% im Jahr 2023, in absoluten Zahlen verzweieinhalbfachte sich aber der Ölverbrauch. Dr. Lu argumentiert, dass Taipower Atomkraft nicht als Ersatz für Wärmekraft sah, sondern als Ergänzung, im Angesichts eines steigenden Energieverbrauches.
Doch noch während der authoritären Herrschaft der KMT entwickelte sich im Taiwan der 70er Jahren eine Antiatomkraftbewegung. Ursprünglich waren es taiwanische Akademiker, die in den USA studiert hatten, die vor den Risiken der Kernkraft warnten. In den 80er organisierten sie sich gemeinsam mit Anwohnern von Atomkraftwerken.
Die Demokratiebewegung tangwai (黨外, “außerhalb der Partei”) machte sich die Unzufriedenheit über die Atompolitik der KMT zunutze und unterstütze die Antiatomkraftbewegung. 1986 gründeten Mitglieder der tangwai dann die Demokratische Fortschrittspartei DPP.
“In den 2000ern, nachdem die DPP zum ersten Mal die Präsidentschaftswahl gewann, haben sie das “atomfreie Heimatland” gleich zu Beginn zu einem wichtigen Ziel erklärt. Das war der Moment, in dem erneuerbare Energien, vor allem Solar und Wind, in die taiwanische Energiepolitik eingeführt wurden.”
Trotzdem kommt der Ausbau der Erneuerbaren in Taiwan nur schleppend voran – obwohl schon in den frühen 60er Jahren auf den vorgelagerten Pengu-Inseln mit Windturbinen experimentiert wurde, um die Energiesicherheit dort zu erhöhen.
Damals scheiterte das Projekt vor allem an Schwierigkeiten bei der Instandhaltung. Der Ausbau der erneuerbaren Energien in Taiwan steht auch heute noch vor einer Reihe an Herausforderungen, darunter begrenzte Flächen und regulatorische Hürden. Hohe Lokalisierungsanforderungen für Offshore-Windkraftanlagen wurden mittlerweile gelockert,doch ein Windkraftboom bleibt noch aus. In ihrer Dissertation hebt Dr. Lu auch den Widerstand von Naturschützern und Fischern hervor, insbesondere im Bezug auf Offshore-Windenergie. Aber auch das Stromnetz stellt eine Herausforderung dar, da es stark auf große und zentrale Kraftwerke ausgerichtet ist, statt auf dezentrale erneuerbare Energien.
“Was wir Ende der 80er und 90er Jahre gesehen haben war, dass Erneuerbare Energien zwar als Alternative gesehen wurden um die taiwanische Energiesicherheit zu stärken. Aber das taiwanische Energiesystem war bereits sehr zentralisiert und abhängig von diesen Grundlast-Kraftwerken, große Grundlastkraftwerke, die in unterschiedlichen Städten sind. Und es ist das Stromnetz, wie man es verteilter machen kann, und kompatibler mit dieser ganzen erneuerbaren Energie wie Windturbinen und Solaranlagen, die viel Verbesserungen und auch einige Anpassungen im Hinblick auf das Stromnetz brauchen, damit mehr erneuerbare Energien in das Netz integriert bzw. mit ihm verbunden werden können.”
Die taiwanische Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ist über Jahrzehnte hinweg gewachsen. Unter dem Druck eines steigenden Energieverbrauchs in der Halbleiterindustrie werden die nächsten Jahre zeigen, ob Taiwan es schafft, diese historische Kontinuität zu brechen.
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