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Tag der Arbeit: Taiwanische Gewerkschaften demonstrieren für bessere Arbeitsbedingungen

  • 07-05-2025
Taiwan in Bewegung
Am 1. Mai fand in Taipei die jährliche Demonstration zum Internationalen Tag der Arbeit statt. (Foto: CNA)

Am 1. Mai fand in Taipei die jährliche Demonstration zum Internationalen Tag der Arbeit statt. Unter dem Motto “Gegen Mobbing – für mehr Schutz” (反霸凌 – 要保障) demonstrierten nach Schätzungen des “Aktionsbündis 1. Mai” mehr als 5000 Menschen für bessere Arbeitsbedinungen. Dabei forderten sie vor allem Schutz vor Mobbing, Reduzierung der Arbeitszeit, Bekämpfung der Altersarmut und Erhöhung der Rentensicherheit, höhere Löhne und Inflationsbekämpfung, mehr Personal in den Bereichen Pflege, Bildung und Gesundheitswesen und Einbeziehung der Arbeitnehmerseite bei der gerechten Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Klimaschutz. Juliane berichtet über die Demonstration und die Forderungen.

Das Motto der diesjährigen Demonstration bezog sich auf eine Reihe von Vorfällen von Mobbing am Arbeitsplatz, die im letzten Jahr für Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Den Stein ins Rollen gebracht hatte der Selbstmord eines Mannes mit Nachnamen Wu (吳) – ausgerechnet ein Mitarbeiter der Arbeitsentwicklungsagentur des taiwanischen Arbeitsministeriums. Andere Mitarbeiter berichteten von Mobbing und einem toxischen Arbeitsumfeld verursacht durch die Direktorin Hsieh Yi-jung (謝宜容). Diese erwarte von ihren Angestellten, rund um die Uhr erreichbar zu sein, und innerhalb von einer Minute auf Nachrichten zu antworten. Das belegten auch Tonaufnahmen von internen Gesprächen. 

Im Zuge des Vorfalls trat die Arbeitsministerin Ho Pei-shan (何佩珊) zurück, an ihrer Stelle wurde Hung Sun-han (洪申翰) ernannt. Die Regierung hatte damals angekündigt, Präventationsmaßnahmen zu erarbeiten. Am 1. Mai dann, also am Tag der Demonstration, verabschiedete das Kabinett einen Bericht über eine mögliche Änderung des Arbeitssicherheitsgesetz. Dieser sieht auch einen neuen Abschnitt mit Vorschriften über Mobbing am Arbeitsplatz vor. 

Das Arbeitssicherheitsgesetz gilt allerdings nur für privat Beschäftigte. Das Aktionsbündnis 1. Mai forderte, das Arbeitssicherheitsgesetz müsse auch auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst angewandt werden. Darüber hinaus forderten sie, bei Mobbingvorfällen unparteiische Dritte sowie Arbeitnehmervertreter hinzuzuziehen. Die Benachteiligung von Whistleblowern und Mobbingopfern durch Arbeitgeber solle verboten werden. 

Demonstranten fordern Work-Life-Balance

Eine weitere Forderung, die bei der Demonstration im Vordergrund stand, bezog sich auf eine Reduktion der Arbeitszeit, die Wiederherstellung von Feiertagen und mehr Urlaubstage. He Cheng-chia (何政家), Vorsitzender des Taiwanischen Gewerkschaftsbundes für Arbeiterkampf, sprach am Tag der Arbeit und sagte:

“Was erzählt uns die Regierung? Sie sagen, wir lieben es, Überstunden zu machen. Das ist doch lächerlich. Wenn Taiwaner nicht so ein niedriges Gehalt hätten, würden sie es dann lieben, Überstunden zu machen, nicht wahr?”

In Taiwan ist der Überstundenzuschlag rechtlich festgesetzt. Je nach Länge der Überstunden und der Art des Tages an denen die Überstunden gemacht werden (also Feiertag, Arbeitstag oder Werktag) gibt es bis zum doppelten Gehalt. Manche Menschen sehen daher Überstunden als einen Weg, ihr Gehalt aufzubessern.

Xun, eine junge Büroangestellte erzählt:

"Meine Firma verschickt manchmal vor Feiertagen einen Fragebogen, in dem sie Angestellte fragen, ob sie willens sind, am Feiertag zu arbeiten. Bei diesem Tag der Arbeit gab es auch so einen Fragebogen. Ich habe mich entschieden, am Tag der Arbeit zu arbeiten, wegen dem Überstundenzuschlag. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, und zwar ist unsere Arbeitslast in dieser Firma sehr hoch. Wenn man nicht versucht, die Fälle abzuarbeiten, kann es gut sein, dass man einem normalen Arbeitstag Abends länger dableiben muss. Am Tag der Arbeit habe ich dann gesehen, dass die meisten Kollegen und mein Abteilungsleiter auch im Büro waren."

Es sind aber nicht nur niedrige Gehälter, die dafür sorgen, dass Taiwaner wenig Freizeit haben. Es liegt auch an den gesetzlichen Regelungen zu Urlaubsanspruch und Feiertagen, mit weitreichenden Auswirkungen.

“Wir wollen mehr Feiertage und mehr Urlaubstage, damit wir eine Work-Life-Balance erzielen können, nicht wahr? Das würde auch die Entwicklung der Tourismusindustrie in Taiwan ankurbeln, nicht wahr?”

Tatsächlich ist die Anzahl der Urlaubstage in Taiwan sehr gering – im ersten Jahr stehen einem Arbeitnehmer nur 3 Tage Urlaub zu, im zweiten Jahr erhöht sich die Anzahl auf 7 Tage. Erst nach 14 Jahren ist man dann bei 20 Tagen Urlaub im Jahr, was in Deutschland der gesetzliche Mindestanspruch ist. Nach 24 Jahren bei der gleichen Firma ist man dann mit 30 Tagen Urlaub im Jahr beim Maximum angelangt. Wird die Firma gewechselt, können Urlaubstage in der Regel nicht mitgenommen werden, und werden stattdessen auf 3 Tage zurückgesetzt. Urlaub ist vor allem für junge Menschen hauptsächlich an langen Wochenenden möglich – an diesen sind in Taiwan regelmäßig Zugtickets und Hotels komplett ausgebucht. 

Auch die Zahl der Feiertage kritisierten die Demonstranten. Tatsächlich ist der 1. Mai in Taiwan seit 2016 kein offizieller Feiertag mehr. Lediglich Angestellte, die unter dem Arbeitsgesetz erfasst sind, haben an dem Tag frei. Auf Angestellte im öffentlichen Dienst trifft das nicht zu. Somit waren Behörden und Schulen am 1. Mai geöffnet, während Angestellte von Privatunternehmen ihren freien Tag genießen können.

Die Demonstranten forderten die Wiedereinführung des 1. Mai als gesetzlicher Feiertag, gemeinsam mit den sechs anderen Feiertagen, die 2016 abgeschafft wurden. Damals wurde offiziell die 5-Tage-Woche mit 40 Stunden Wochenarbeitszeit eingeführt. 

Lange galt in Taiwan eine 48-Stunden-Woche. Erst 2001 wurde die 5-Tage-Woche eingeführt, unter einer Regelung mit 84 Stunden Arbeitszeit in 2 Wochen. In der Praxis führte das dazu, dass Arbeitnehmer zum Teil doch weiterhin am Samstag ins Büro mussten. Erst 2016 wurde dann die 40-Stunden-Woche eingeführt und die 5-Tage-Woche verwirklicht – wobei es immer noch möglich ist, an einem sechsten Tag Überstunden zu machen, die dann entsprechend mit einem Überstundenzuschlag vergütet werden. Gleichzeitig strich die Taiwanische Regierung sieben gesetzliche Feiertage, darunter auch der 1. Mai. Statt 19 gesetzlicher Feiertage gibt es in Taiwan jetzt nur noch 12, ähnlich wie in Deutschland.

Gesellschaftliche Auswirkungen des geringen Lohnniveaus

Aber nicht nur ein Mangel an Freizeit ist ein Problem, wie He Cheng-chia betonte:

“Wir sind in Taiwan derzeit eine alternde Gesellschaft, und haben gleichzeitig niedrige Löhne. Das führt dazu, dass junge Menschen nicht heiraten und keine Kinder bekommen. In einem Zeitalter von hohen Preisen und teuren Immobilien haben diese jungen Menschen keine Zukunft. Was entscheiden sie sich also zu tun? Sie machen tangping.”

Tangping (躺平) bedeutet so viel wie “flachliegen” und ist ein Trend aus der Volksrepublik China, bei dem junge Menschen versuchen, dem Hamsterrad zu entfliehen, und stattdessen ein ruhiges, genügsames Leben leben. 

"Wenn die jungen Menschen in einer Gesellschaft glauben dass, egal wie fleißig sie sind, sie trotzdem kein Haus kaufen können, dass sie glücklich leben und arbeiten können, werden sie dann noch fleißig sein? Daher ist das niedrige Lohnniveau eine Sache, die unsere Regierung angehen und bewältigen muss."

He Cheng-chia kam auch auf den hohen Anteil der Geringverdiener in Taiwan zu sprechen. Er sagte, am 1. Januar dieses Jahres wurde der Mindestlohn von 27.470 Taiwandollar auf 28.590 Taiwandollar erhöht. Das ist eine Erhöhung von etwa 804 Euro auf 837 Euro, eine Erhöhung um etwa 33 Euro pro Monat.

"Was ist das Lächerliche daran? Von der Erhöhung des Mindestlohns haben 2.570.000 Arbeiter profitiert. Wie viel ist das? Nach Zahlen der Statistikbehörde gibt es in Taiwan 8.457.000 Angestellte. Wenn also die Erhöhung des Mindestlohns 2.570.000 Taiwaner betrifft, dann ist das mehr als ein Drittel.

Das Arbeitsministerium hat in der Vergangenheit gesagt, alles unter 31.000 Taiwandollar im Monat ist ein Niedriglohn. Nach dieser Betrachtung sind fast die Hälfte aller Taiwaner Geringverdiener. Die Hälfte aller Taiwaner! Trotz dieser Zahlen hat die Regierung darauf kaum reagiert, es gibt kaum Maßnahmen um das Problem der geringen Löhne zu lösen."

Mit kreativen Performances machten die Demonstranten auf ihre Anliegen aufmerksam. In einem Sketch parodierten sie einen bekannten Wahlkampfwerbespot des jetztigen Präsidenten Lai Ching-tes. Sie warfen Politikern vor, ihre Gesetzesentwürfe für mehr Urlaub zugunsten von Regierungsposten vernachlässigt zu haben. Ein weiterer Sketch beleuchtete die Schwierigkeiten von Arbeitern im Gesundheitswesen.

Niedrige gewerkschaftliche Organisierung

Auffallend an dem Protestzug war, dass hauptsächlich Gewerkschaften vor Ort waren. Zwar beteiligten sich auch einige Kleinparteien, NGOs und linke Splittergruppen an dem Protestzug, aber nicht-gewerkschaftlich organisierte Menschen waren zahlenmäßig kaum repräsentiert. 

Offiziell sind in Taiwan 32,7% der Arbeiter in Gewerkschaften organisiert. Das hört sich nach viel an, aber den Großteil der Mitglieder haben die Berufsgewerkschaften (職業工會). Davon gibt es über 4000 – sie bieten vor allem Dienstleistungen wie Versicherungen an und leisten eher selten herkömmliche Gewerkschaftsarbeit. Über 40% aller Taiwaner sind in Mitglieder von solchen Berufsgwerkschaften. 

Es gibt aber noch zwei andere Arten von Gewerkschaften in Taiwan, nämlich die Industriegewerkschaften (產業公會) und Unternehmensgewerkschaften (企業工會). In den Unternehmensgewerkschaften sind Angestellte eines Unternehmens organisiert, damit ähneln sie einem Betriebsrat. Etwa 15% der taiwanischen Arbeiter sind in Unternehmensgewerkschaften organisiert. Der Anteil der Taiwaner, die in einer Industriegewerkschaft organisiert sind, liegt unter 10%. Die Macht von Gewerkschaften in Taiwan ist damit begrenzt. 

Ein großes Hindernis zur gewerkschaftlichen Organisierung in Taiwan ist Paragraph 11 des Gewerkschaftsgesetzes. Demnach braucht es zur gewerkschaftlichen Organisierung mehr als 30 Personen. Allerdings machen kleine und mittleren Unternehmen machen allerdings den Großteil der Unternehmen in Taiwan aus - ganze 98% aller Unternehmen haben weniger als 30 Angestellte, stellen aber fast die Hälfte (46,7%) aller taiwanischen Arbeitnehmer ein.

Wie die Demonstration zum 1. Mai allerdings gezeigt hat, gibt es eine Vielzahl an arbeitsrechtlichen Themen, die in Taiwan angegangen werden müssen. Zumindest über die Wiedereinführung von Feiertagen gab es zuletzt Debatten im Parlament. Wer weiß, ob der 1. Mai im nächsten Jahr vielleicht wieder ein Feiertag für alle Taiwaner ist.

Redaktion

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